Fehlende Sicherheit – das ist grob fahrlässig

Zuletzt haben mich drei Texte bewegt, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben: Da war Jonny Fischers Biografie, die mich erschüttert hat, dann ein Artikel mit dem Titel Keine Angst vor dummen Fragen aus dem Wirtschaftsteil der NZZ am Sonntag und schliesslich das letzte Kapitel aus Martin Benz Buch Wenn der Glaube nicht mehr passt, das wir diese Woche im Format zäme wyter dänke besprochen haben.

Gebrochene Persönlichkeit

Via Medien habe ich wie viele andere längst mitbekommen, dass Jonny Fischer unter seiner freikirchlichen Prägung gelitten hatte.

Nun (endlich) seine Biografie zu lesen, machte mich tief traurig und auch wütend: Die familiäre, konservativ-evangelikale Prägung war nicht einfach der frühere Jonny – oder eben Jonathan. Seite für Seite wird klar, dass noch ganz viel Jonathan im erfolgreichen Jonny steckt (darum auch der Titel des Buches Ich bin auch Jonathan).

Als gefeierter, mehrfach preisgekrönter Bühnenstar hat es Jonny mit Divertimento längst geschafft. Doch all dieser Erfolg reichte nicht, um ihm den Selbstzweifel zu nehmen. Er konnte das von seinem Vater vermittelte Bild eines strafenden Gottes nicht einfach abstreifen. Im Gegenteil: Er litt immer wieder unter der Angst, nicht okay zu sein, nicht zu genügen und kämpfte darum, geliebt zu werden.

Doch so lange er selbst sich nicht lieben konnte, waren auch seine zwischenmenschlichen Beziehungen immer wieder von Enttäuschungen und Verletzungen durchzogen.

Es tut mir so leid für Jonny und viele Leidensgenossen, was einige Menschen aus dem liebenden Gott gemacht haben. Jonnys Biografie ist eine schonungslose Erinnerung daran, welche toxischen Züge der Glaube annehmen kann.

Falscher Fuss amputiert

Komisch-tragisch war die Lektüre des eingangs erwähnten NZZ Artikels:

In einem amerikanischen Krankenhaus wurde einem Patienten der falsche Fuss amputiert, obwohl mehrere Personen im Operationssaal den Fehler bemerkten.

Nicole Kopp, in Geld & Geist (NZZ am Sonntag, 4. Februar 2024)

Der Artikel ging der Frage nach, wann es in einem Team zu Bestleistungen kommt. Stimmt das naheliegende? Sind die besten Teams die, in denen die besten Leute sind? Sind Intelligenz, Fachkompetenz und strategisches Denken beispielsweise die entscheidenden Erfolgsfaktoren?

Vor vielen Jahren habe ich gelernt, dass der Unterschied zwischen einem guten zu einem Hochleistungs-, oder Dream-, Team der Umgang miteinander ist. Wo das Miteinander ein echtes Miteinander, geprägt von Respekt, Wertschätzung und sogar Liebe, ist, da sind auch die Resultate die besten.

Tatsache ist, dass es in Teams zu haarsträubenden Fehlleistungen kommen kann, wenn das Miteinander von Gleichgültigkeit oder gar Angst geprägt ist. Ob der falsche Fuss amputiert oder Flugzeugabstürze – es sind keine erfundenen Geschichten, sondern der tragische Beweis, dass fehlende psychologische Sicherheit und ausbleibende Kommunikation weitreichende Folgen haben.

Safe Places – ein sicheres Umfeld

Über Monate haben wir mit 20-30 Personen über das spannende Buch Wenn der Glaube nicht mehr passt von Martin Benz ausgetauscht. Diese Woche war nun das letzte Kapitel verbunden mit der Frage, wie wir vorwärtsglauben können, an der Reihe.

Eine gesunde Glaubensentwicklung, so unsere Erkenntnis des Abends, ist zwar individuell, braucht jedoch einen sicheren Ort mit anderen Menschen. Nur ein ehrlicher Austausch kann uns echt weiterbringen. Doch diese Ehrlichkeit, bei der man sich seinen Ängsten, Zweifel und Fragen stellt, kann nicht auf Knopfdruck hergestellt werden.

Es braucht Geduld, damit Vertrauen wachsen kann. Erst wenn ich mich sicher fühle und darauf vertrauen kann, dass ich von den anderen nicht «abgeschossen» werde, kann ich mich öffnen und mich verletzlich machen.

In Dreamteams fühlen sich Menschen sicher und getrauen sich beispielsweise auch den Chefarzt zu korrigieren (bevor er einen falschen Fuss amputiert) , in Glaubensgemeinschaften macht die psychologische Sicherheit den Unterschied, ob Menschen sich in ihrem persönlichen Glauben entfalten können (oder alle gleichgeschaltet werden).

Jonathan fehlte in der Kindheit diese psychologische Sicherheit. Dafür bezahlte der äusserlich äusserst erfolgreiche Jonny einen enorm hohen Preis.

Glücksaufgabe

Wie ist das bei dir? Was hat dich in deiner Kindheit geprägt, welches Gottesbild wurde dir vermittelt?

Und wo hast du in deinem Berufsleben bereits in einem Dreamteam mitwirken dürfen und wo hast du vielleicht erlebt, wie man mangels psychologischer Sicherheit den unangenehmen Gesprächen ausgewichen ist?

Welche Menschen können dir einen sicheren Rahmen bieten, damit du dich in deiner Persönlichkeit und in deinem Glauben positiv entwickeln kannst?

Du bist gewollt!

Einen Menschen lieben heißt ihn so sehen, wie Gott ihn gemeint hat.
Fjodor Michailowitsch Dostojewski

Letzte Woche habe ich hier in meinem GlücksBlog behauptet, dass der gute Umgang mit sich selbst mit einem stabilen Selbstwert beginnt. Und ich schrieb: „Wir sind, was wir uns selbst sagen, was wir sind!“

„Stimmt das?“ habe ich meine Familie gefragt. Die Reaktion meiner Frau hat mir gefallen: „Aus unserer Sicht schon. Aber nicht aus Gottes Sicht.“

Ich stehe immer noch zu meiner These. Es ist von entscheidender Bedeutung, was wir selbst über uns denken, glauben, fühlen, sagen … Das macht uns aus, das bestimmt, wie wir uns verhalten, wie wir uns in Gruppen hineingeben, wie wir uns „verkaufen“ – beim Bewerbungsgespräch, im Verein oder in der Nachbarschaft – aber auch im Freundeskreis.

Die Frage dahinter ist: Wer bestimmt, was wir uns selbst sagen, was wir sind? Konkret: Wovon machen wir unser Selbstbild abhängig?

Aus unserer Sicht sind wir, was wir uns selbst sagen, was wir sind. Aus Gottes Sicht sind wir viel mehr. Die Herausforderung besteht darin, Gottes Sicht auf uns in unser eigenes Bild von uns zu integrieren.

Leider scheitern wir oft genau an diesem Punkt: Unser Denken über uns selbst wird bestimmt von dem, was wir denken, dass andere über uns denken. Wir fühlen uns geliebt, gewollt und wertvoll – so lange andere uns mit Anerkennung und Liebe überschütten.

Das Problem dabei: Die anderen können uns gar nie mit so viel Liebe und Anerkennung überschütten, wie wir es uns wünschen. Dabei ähneln wir einem Löcherbecken: Je mehr Lob, Anerkennung und Liebe uns andere schenken, desto schneller läuft dieses „wohlige Wasser“ ab und verliert seine Wirkung.

Meine Blogleser wissen hoffentlich, dass mir eine Kultur der Wertschätzung sehr wichtig ist und ich davon überzeugt bin, dass wir uns gegenseitig mit Anerkennung und Liebe beschenken sollen.

Doch: Wenn wir unseren Wert davon abhängig machen, bauen wir aufs falsche Fundament!

Bei Apostel Paulus lese ich, dass unser Leben am besten „in der Liebe verwurzelt und auf das Fundament der Liebe gegründet ist.“ Und zwar geht es hier um die göttliche Liebe, die uns unabhängig von der Anerkennung unserer Mitmenschen gilt: Du bist wertvoll und geliebt, weil Gott Ja zu dir sagt!

Meine Sicht über mich selbst verändert sich, wenn ich glauben kann, dass Gott mich gewollt hat, dass er gute Gedanken über mich hat. 

Der Wert des Menschen ist nicht abhängig von Äusserlichkeiten! Unseren Wert haben wir, weil uns unser Leben von Gott als Ursprung des Lebens anvertraut wurde!

Wir bleiben, was wir uns selbst sagen, was wir sind. Aber mit dem Glauben daran, dass Gott zu uns sagt: „Du bist gewollt!“ werden wir uns hoffentlich andere Dinge zu uns selbst sagen!

Und natürlich wünsche ich mir, dass wir gemäss dem Eingangszitat auch andere Menschen so sehen, wie Gott sie gemeint hat. Doch so schön dieses Zitat auch ist (es wurde auffällig mehr mit „Gefällt mir!“ markiert als andere Zitate, die ich postete), bleibt für mich an diesem Punkt auch eine gewisse Ernüchterung: Ich kann andere gar nie vollständig so sehen, wie Gott sie gemeint hat. Und ich kann andere auch nie so lieben, wie Gott sie liebt.

Es bleiben edle Ziele – und die will ich auch gar nicht aufgeben. Aber es reicht nicht: Jeder muss für sich selbst an dieser göttlichen Liebe angedockt sein, sonst bleibt das Leck in unserem Liebestank einfach zu gross.

 

Im GlücksBlog schreibe ich zu den fünf Bereichen, die zu einem Leben in Zufriedenheit gehören. Diese Woche geht es um den Bereich Gelebte Spiritualität.

Der Boom vom Selbst

Man darf sich von sich selbst nicht alles gefallen lassen.
Viktor Frankl

Selbst-Wörter haben Hochkonjunktur: Ein Blick in die Ratgeberliteratur widerspiegelt den Boom zur Beschäftigung mit dem Selbst. Von Selbstführung über Selbstoptimierung bis zu Selbstliebe sind tausende Titel zu finden. 

Auch Google wird nicht sprachlos und liefert mir unzählige Vorschläge zur Vervollständigung meiner Suche nach Selbst…: Von Selbstkompetenz über Selbsthilfegruppe bis Selbstbewusstsein.

Auf die Gefahr hin, dass die „Selbst-Wörter“ inflationär gebraucht werden, bin ich der festen Überzeugung, dass es sich hier um mehr als um eine Modeerscheinung des Individualismus handelt. In diesen vielen Selbst… liegt ein wesentlicher Schlüssel unseres Daseins.

Schliesslich schreibe ich ja in Glück finden – hier und jetzt auch: „Das persönliche Glück beginnt mit dem guten Umgang mit sich selbst.“ Tatsächlich gehe ich soweit, dass ich behaupte, im Zentrum der Lebenszufriedenheit steht das Selbst – genau wie beim Windrad die Nabe den Mittelpunkt bildet und alles zusammenhält:

Im Zentrum des Windrades befindet sich die Nabe; sie hält die Rotorblätter zusammen. Sie bedarf einer ganz besonderen Beachtung, da die Rotornabe der Teil des Windrades ist, welcher der höchsten Belastung ausgesetzt ist. Dasselbe gilt für das Selbst in Bezug auf das Menschsein. Leider tragen wir dieser Tatsache im Alltag oft zu wenig Rechnung. Obwohl bereits die Weisheitsliteratur im Alten Testament daran erinnert, ganz besonders auf das eigene Selbst zu achten, wird nicht selten ausgerechnet bei der Selbstfürsorge gespart.

Der innere Dialog

Worte haben Macht, Worte können aufbauen oder zerstören. Das kennen wir alle nur zu gut aus dem zwischenmenschlichen Bereich. Worte haben aber auch Macht, wenn wir sie uns selbst sagen. Wir sind, was wir uns selbst sagen, was wir sind!

Natürlich sind wir objektiv betrachtet meistens (ein bisschen) anders, als wir uns einreden: Die Einen sind dann doch nicht ganz so gut, wie sie sich selbst zureden. Bei den Meisten von uns kippt der Selbstbetrug jedoch in die andere Richtung: Wir machen uns in unseren Gedanken kleiner, als wir tatsächlich sind.

Und so kommen wir mit Viktor Frankl zur Frage, wo wir uns selbst im Wege stehen:

  • Wo sollte ich mir von mir nicht alles gefallen lassen?
  • Wo muss ich meinem Selbst beibringen, dass diese (negativen) Gedanken nicht zielführend sind?
  • Wo sollte ich hingegen selbsterrichtete Schranken niederreissen?
  • Wo muss ich Nein zu mir selbst sagen? (Nicht im Sinn von Selbstablehnung, sondern im Sinn von Selbsteinschränkung)
  • Wo braucht es endlich ein starkes Ja?

Wird der Dialog mit anderen Menschen zu verletzend, ziehen wir uns aus gutem Grund zurück (Selbstschutz). Doch beim inneren Dialog versagt nicht selten genau dieser Mechanismus: Statt die selbstverletzenden (Selbstsabotage) Worte, die wir an uns selbst richten, zu stoppen, geben wir unseren zerstörerischen Gedanken und Gefühlen freien Lauf und die negativ Spirale zieht uns immer tiefer und tiefer.

Basis von all diesen Selbst-Dingen ist der Selbstwert. Ist der Selbstwert intakt, können wir auch die nächsten Schritte zur Selbstannahme, zu einem stabilen Selbstvertrauen und grundsätzlich zu einem guten Umgang mit uns selbst – und schliesslich auch mit unserern Mitmenschen – gehen. Doch wenn der Selbstwert immer wieder einsackt, kämpfen wir mit Selbstablehnung und so gehört die Selbstsabotage zu unserem stetigen Begleiter.

Leider verfallen viele Menschen dem Irrtum, sie müssten sich den Selbstwert erst noch verdienen. Doch Selbstwert haben wir nicht, weil wir etwas besonders gut können, sondern weil wir leben. Das Leben ist ein Geschenk – darum hat jeder Mensch seinen Wert. Und darum liegt unser Selbstwert in unserem Sein, nicht in unserem Tun!

 

Im GlücksBlog schreibe ich zu den fünf Bereichen, die zu einem Leben in Zufriedenheit gehören. Diese Woche geht es um den Bereich Bewusste Selbstführung.

Ego-Show vs. Selbstliebe

Die Krankheit der Rivalität und der Ruhmsucht – wenn das Äußere, die Farben der Kleidung und Zeichen der Ehre zum vorrangigen Lebensziel werden…
Papst Franziskus, in seiner Schelte an die Kurie

Nein, ich bin nicht katholisch. Aber Papst Franziskus hat es mir angetan. Und zwar von der ersten Stunde seiner Wahl an. Ich erinnere mich, wie ich fasziniert war, als er erstmals als Papst auf dem Balkon erschien und die versammelte Gemeinde bat, für ihn zu beten. Was für eine Demut.

In den letzten beiden Jahren war er immer wieder gut für eine Überraschung – ob er tätige Bescheidenheit zeigt oder sich als Brückenbauer zu Randständigen oder Andersdenkenden erweist, immer mal wieder bin ich beeindruckt von diesem Papst.

Ende letztes Jahr war wieder so ein Moment: Überrascht und anerkennend las ich in der NZZ am Sonntag, wie Franziskus seine Mitarbeiter zurecht wies. Gleich 15 Krankheiten hatte er in der Kurie diagnostiziert.

Auffallend dabei: Der Papst attestierte seinen Kardinälen einen schlechten Umgang mit sich selbst und eine tote Spiritualität. Unter Ersterem führte er „Krankheiten“ wie  „sich unstebrlich fühlen“, „zu hart arbeiten“, „Trauermine aufsetzen“ oder „nach weltlichen Profiten streben“ auf. Bei der fehlenden Spiritualität bemängelt er fehlende Offenheit für das Wirken des Heiligen Geistes und spricht gar von „Spirituellem Alzheimer“.

Das eigene Wohl – und das meiner Mitmenschen

Das päpstliche Zitat über die Krankheit der Ruhmsucht am Anfang dieses Blogartikels geht wie folgt weiter: „…und man das Wort des heiligen Paulus vergisst: ‚Tut nichts aus Ehrgeiz und nichts aus Prahlerei. Sondern in Demut schätze einer den andern höher ein als sich selbst. Jeder achte nicht nur auf das eigene Wohl, sondern auch auf das der anderen.‘ (Philipper 2,1-4)“

Spannend, dass uns dieser Bibeltext – mindestens nach der Einheitsübersetzung – indirekt dazu einlädt, auf das eigene Wohl zu achten. Nicht nur, natürlich, aber eben auch.

Denn, genau davon hatten wir es kürzlich im SunntigsTräff von „gms – z’friede läbe“, es geht beim berühmten Doppelgebot der Liebe im Grunde um eine dreifache Liebe: Zu Gott, zum Nächsten und zu mir selbst.

In der Gruppendiskussion wollte ich wissen, welches die schwierigste Form der Liebe sei. Nicht verwunderlich, dass viele zu allererst mit der Selbstliebe zu kämpfen haben. Ich glaube, dass gerade hier ein wichtiger Schlüssel zur Nächstenliebe liegt: Erst wer sich selbst liebt, kann dem anderen in uneigennütziger Liebe begegnen. Nicht, weil der andere meine Defizite ausfüllt, liebe ich ihn, sondern weil er wie jedes Geschöpf liebenswürdig ist.

Kann ich mich selbst annehmen und lieben, brauche ich auch keine Ego-Show abzuziehen. Die Krankheiten der päpstlichen Diagnose kann ich abschütteln, wenn ich zur Selbstliebe und zu einem guten Umgang mit mir selbst finde. Ruhmsucht, Prahlerei, Rivalität, sich unsterblich machen, Vorgesetzte vergöttern, Profitstreben… hat nur nötig, wer noch kein Ja zu sich selbst gefunden hat.

Darum: Beginnen Sie, sich selbst zu lieben, damit Sie auch Ihre Mitmenschen lieben können!

 

Konkret

Mein Blogbeitrag dieser Woche dreht sich um den Lebensbereich “Selbst“.

Geliebt sein

Selbstannahme

Ein gutes Mass an Selbstliebe und Selbstwertgefühl stellt die Basis dar,
um auch anderen liebevoll und einfühlsam begegnen zu können.
Michael Klessmann

In der christlichen Tradition werden Nächsten- und sogar Feindesliebe gross geschrieben. Demgegenüber hat die Selbstliebe oftmals einen fahlen Beigeschmack und wird schnell einmal mit Selbstverherrlichung und Ego-Trip gleichgesetzt. Vielerorts ist eine solche Ansicht inzwischen – Gott sei Dank – überwunden worden.

Nur wer gelernt hat, sich selbst zu lieben und sich anzunehmen, wird das Gebot der Nächstenliebe aufrichtig und gesund ausleben können. Eigentlich schwingt das bereits in der Jesus-Aussage „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Markus 12,31) mit. Und das diese Selbstliebe mitunter die schwierigste Aufgabe sein kann, schrieb der Psychiater C.G. Jung: „Wenn ich nun aber entdecken sollte, dass der Geringste von allen, der Ärmste aller Bettler, der Frechste aller Beleidiger, ja der Feind selber in mir ist, dass ich selber des Almosens meiner Güte bedarf, dass ich mir selber der zu liebende Feind bin, was dann?“

Selbstannahme

Nächsten lieben? Ja! Feinde lieben? Ja! Aber was, wenn der Feind in mir selbst ist? Was, wenn es mir einfach nicht gelingt, mich mit meinem Schatten, meinen dunkeln Seiten, mit meinem Wesen, mit meinem Inneren oder Äusseren zu versöhnen?

Auf diese schwierige Frage will ich keine einfache Antwort geben – weil das individuelle Leben komplexer ist als gut gemeinte Allzweckratschläge. C.G. Jung spricht davon, dass es das Unmöglichste sei, „sich selbst in seinem erbärmlichen So-Sein anzunehmen.“ Wenn schon einer der grossen Psychiater solches sagt, wird es wohl kaum einen einfachen, schnell anzuwendenden psychologischen Trick zur Selbstannahme geben.

Was sicher ist: Wer Liebe geben will, muss zuerst selbst Liebe erfahren. Und um mich selbst lieben zu lernen, brauche ich die Erfahrung des unverdienten Geschenks des „Geliebt-Werdens“. Entwicklungspsychologisch geht unsere Liebesfähigkeit auf die Kleinkindphase zurück. Michael Klessmann schreibt in seinem Lehrbuch zur Pastoralpsychologie:

Ein Kind ist zunächst darauf angewiesen, dass ihm die Liebe und sensible Zuwendung der Mutter entgegenkommt, um ein stabiles Selbstwertgefühl aufbauen zu können. Nur in dem Mass, in dem das gelingt, ist das Kind und später der/die Erwachsene wiederum in der Lage, selber unverkrampft und offen Liebe und Zuneigung an andere weiterzugeben. Wenn ein Kind kein einigermassen stabiles Selbstwertgefühl entwickeln kann, wird es kaum liebesfähig, sondern wird dazu neigen, erlittene Frustrationen und Verletzungen in späteren Beziehungen zu wiederholen.

Für mich als Theologe und Jesus-Nachfolger beginnt die Stärkung der eigenen Liebesfähigkeit jedoch noch weit früher als bei der erfahrenen Mutterliebe: Die Gewissheit, ein geliebtes und erwünschtes Geschöpf des himmlischen Vaters zu sein, ist für mich der feste Boden, auf dem ich stehe. Und dass mir dieser vollkommene Gott trotz meinem „erbärmlichen So-Sein“ immer wieder ein Beziehungs- und Liebesangebot macht, ist wahrhaft Gnade. 

WEITERFÜHRENDE ANGEBOTE

Mein Blogbeitrag dieser Woche dreht sich um den Lebensbereich “Spiritualität“.