Jeder gegen jede?

Diese Woche beim Frisör (ja, schon zum zweiten Mal in Corona-Uniform) im Gespräch mit der Coiffeuse:

Mein Sohn kam neulich nach Hause, verschwand ohne Worte direkt im Zimmer. Ich so: „Hallo, Mittagessen?“ „Nein!“
Oje, nicht gut. Die liebevolle Mutter: „Was ist denn passiert?“
„Die haben gesagt, ich sei dick!!“
Hey, mein Sohn ist vielleicht vieles, aber sicher nicht dick!
Warum tun sich das Kinder an?

In diesen Tagen blicken wir alle auf Amerika und stellen mit einem gewissen Erstaunen und Schock fest: Die haben aber ein sehr grosses Problem mit Rassismus.

Was Schlagzeilen macht eignet sich natürlich auch für ein Gespräch beim Frisör. Ich mag da aber nicht in die allgemeine Tonlage einstimmen im Sinn von: Oh, schau mal, die im Trump-Land sind schon komische Leute.

Nein, Diskriminierung beginnt hier und jetzt. Und so sind wir dann eben über meine Erzählung aus dem Mini-Chäs mit Dave (siehe Blogartikel „Ich kann nicht atmen!“ von letzter Woche) bei der Erzählung aus der Familie meiner Coiffeuse gelandet.

Warum quälen sich Kinder gegenseitig? Warum hat zu leiden, wer nicht einer bestimmten Norm entspricht? Gerade bei Kindern zeigt sich, dass diese Norm keine allgemeine ist, sondern von Situation zu Situation sehr anpassungsfähig ist. Was zur Frage führt: Wer bestimmt denn eigentlich, was gerade die Norm ist? Sprich: Wer sagt, wer in und wer out ist? Wer geliebt und wer gehasst wird?

Bestimmt gäbe es zahlreiche Studien zu solchen Fragen und es ist hilfreich, wenn man sich wissenschaftlich mit solchen Vorgängen von Mobbing auf dem Pausenhof bis zu Rassenkämpfen auf den Strassen der US-Grossstädte auseinandersetzt.

Hier also mein Beitrag und meine Gedanken ohne Studien konsultiert zu haben:

Jeder ist ein Egoist

Wenn bereits Kleinkinder sich zu kleinen Egoisten entwickeln, hat das Elternhaus bereits versagt oder liegt die besondere Fürsorge für sich selbst in unseren Genen?

Ich würde behaupten: Eine völlige Selbstlosigkeit wäre tödlich.

Das Kleinkind schreit, weil es Hunger hat. Ist das jetzt frecher Egoismus oder gesunder Überlebensdrang?

Die Selbstsorge ist wichtig für eine gesunde Entwicklung – nicht nur als Kleinkind oder Schulkind. Auch wir Erwachsenen sollten gut zu uns selbst sein.

Wenn diese gesunde Pflege des Selbst in puren Egoismus kippt, existieren meine Mitmenschen nur noch, um meine Bedürfnisse zu befriedigen. Während uns das Kleinkind mit einem Lächeln beschenkt, wenn es Nahrung erhalten hat, gibt es beim puren Egoisten kein Wechselspiel mehr zwischen Geben und Nehmen.

Er/sie ist so selbstverliebt, dass er/sie das Leben nur noch als Selbstbedienungsladen betrachtet.

Du klein, ich gross

Das führt mich zu einem aus meiner Sicht wesentlichen Punkt wenn es um Diskriminierung geht: Es geht um reine Machtdemonstration.

Ich bin wichtiger als du!
Du bist kleiner als ich!
Du hast weniger Anerkennung verdient!
Ich bin wertvoller als du!

Diese Dynamik nimmt manchmal sehr skurrile Züge an: So war das Kind, das den Sohn meiner Coiffeuse mit dem Ausspruch „Du bist dick!“ gehänselt hat, tatsächlich selber dick und bringt um einiges mehr Kilos auf die Wage als der, den er damit aufzog.

Das zeigt: Rational ist Diskriminierung nicht. Es geht nur darum mir selber mehr Wert zu geben. Indem ich den anderen klein mache, versuche ich mich selbst gross und wichtig zu machen.

Das bringt das eigentlich Bedürfnis hinter all unserem Streben zum Vorschein: Wir möchten geliebt, gesehen und geschätzt werden!

Und das ist gut so!

Nur unser Weg dahin sollten wir schleunigst hinterfragen: Wir werden nicht gross und wichtig indem wir andere klein machen. Nein, wahre Bedeutung erhalten wir, wenn wir einander gegenseitig gross machen.

Einander mit Liebe und Wertschätzung zu beschenken, das ist ein Weg aus so mancher Sackgasse.

Glücksaufgabe

Wer mein Buch Glück finden – hier und jetzt gelesen hat oder regelmässig beim GlücksBlog dabei ist, weiss, dass nicht Egoismus nachhaltig glücklich macht sondern Grosszügigkeit und Mitmenschlichkeit.

Schön auf den Punkt bringt es jetzt auch Tom Gisler. Schau den Clip und frag dich, was das für deinen Umgang mit deinen Mitmenschen bedeuten könnte:

Eine wen iig – dr Dällebach Kari

Viele Menschen sind nur deshalb einsam, weil sie Dämme bauen statt Brücken.  Maurice Chevalier (1888-1972)

Gestern abend sass ich in der Premiére des neuen Kinofilms des Oskarpreisträgers Xavier Koller. Eine wen iig, dr Dällebach Kari ist ein sehr schöner und berührender Film. Da meine Tochter und ich als Statisten dieses Filmes mitwirken durften, war der gestrige Kinobesuch natürlich sehr speziell: Erwartungsvoll lehnten wir uns im Sessel zurück, nur um jedesmal schier aufzuspringen, wenn einer von uns für einen Sekundenbruchteil im Bild zu sehen war…

Die Geschichte berührt: Ein Mensch, der aufgrund einer Missbildung mit sich und dem Leben hadert. Eine Liebe, die ums Überleben kämpft, weil es sie in dieser Form gar nicht geben dürfte. Ein Kampf zwischen Hoffnung, Minderwertigkeit und Mutlosigkeit.

[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=1WQpdH00Aqo[/youtube]

Der lohnenswerte Kinobesuch ist eine Zeitreise in die Stadt Bern vor ungefähr 100 Jahren. Zurück im Jetzt begegnen uns jedoch überall Menschen, die genauso wie Kari mit Einsamkeit zu kämpfen haben. Der Kampf zwischen Hoffnung, Minderwertigkeit und Mutlosigkeit scheint mir in unserer Gesellschaft allgegenwärtig. Ob wir uns, wie Kari, durch eine Missbildung, weil uns „Du reichst nicht!“ eingetrichtert wurde oder aufgrund unserer Begrenztheit minderwertig fühlen, spielt keine grosse Rolle. Tatsache ist: Selbst Menschen, die äusserlich alles haben und im Gegensatz zu Kari von der Gesellschaft hochgejubelt werden, haben in ihrem Innersten nicht selten mit Minderwertigkeit zu kämpfen. Und dieses Gefühl, nicht zu genügen, führt uns in die eine oder andere Form der Isolation, in die Einsamkeit.

Welche Antwort haben wir auf die Not der Einsamkeit in unserer Gesellschaft? Es muss mehr geben als Facebook und 24h Unterhaltungsangebote. Mehr als das beliebte „Sich-im-besten-Licht-Präsentieren“ in der Gemeinschaft, sozialen Netzwerken oder Talent-Shows. Das erlebt auch der Kari Dällebach im Kinofilm: Auch nach einer Operation seiner Lippen-Gaumen-Spalte kämpfte der „innere Mensch“ immer noch mit Minderwertigkeit. Vielleicht bewirkt das „Polieren unserer Fassade“ sogar das Gegenteil vom Gewünschten: Wer will schon einen „Hochglanz-Menschen“ zum Freund?

Die Dämme, die wir bauen (Zitat von oben: Viele Menschen sind nur deshalb einsam, weil sie Dämme bauen statt Brücken. Maurice Chevalier.), sehen ganz unterschiedlich aus: Der bewusste Rückzug in die Einsamkeit und das Meiden von Gemeinschaft mit anderen, gehören genauso dazu wie die unechte Imagepflege (etwas vorgeben, das gar nicht ist) oder das übertriebene Brüsten mit Erfolgen und Status.

Und wie könnten wir statt Dämme Brücken bauen? Einige Ideen zum Weiterdenken:

  • Kari schaffte es dort, das Herz von Annemarie zu gewinnen, als er selbstbewusst, aber ohne etwas vorzuspielen, auftrat. Was kann das für uns heissen?
  • Jeder Mensch hat Fehler – wenn wir uns diese gegenseitig zugestehen, beginnen wir Brückenbauer zu sein.
  • Der Rückzug ins Schneckenhaus macht die Minderwertigkeit und Einsamkeit unerträglich. Wir müssen allen nötigen Mut aufbringen und die Gemeinschaft mit anderen Menschen suchen.
  • Ich erlebe oft, dass gerade das Reden von eigenen Schwächen, Zweifel und Schwierigkeiten einen viel tieferen Zugang zu anderen Menschen schafft, als das (vorgespielte) Schönwetter-Palavre.
  • Als Kari bei den Schwiegereltern in spe scheiterte, wird er von seinen Minderwertigkeitsgefühlen überwältigt. Wer sich öffnet, erlebt auch Rückschläge. Doch selbst dann dürfen wir nicht aufhören, Brücken zu bauen, damit wir nicht in trostloser Einsamkeit landen.

In gewissen Lebensumständen und -situationen ist die Gefahr der Vereinsamung besonders gross. Wie können wir Menschen begegnen, die in solchen Situationen stecken? Sind wir auch bereit Brücken zu den Menschen zu bauen, die sich hinter ihren Dämmen verschanzt haben?

 

Mein  Blogbeitrag dieser Woche dreht sich um den LebensbereichGesellschaft“.